HYPO Invest Club: Brexit als Chance zur Besinnung auf Regionalität
LR Schleritzko diskutierte mit HYPO NOE-Generaldirektor Harold und dem Präsidenten der Österreichisch-Britischen Gesellschaft Tiroch über die Chancen und Risiken des Brexits
Vor gut 120 exklusiv geladenen Gästen im Palais Niederösterreich in Wien widmete sich der HYPO Invest Club am Montagabend der Frage „Brexit – Startpunkt zur Neuordnung Europas?“ Gastgeber und Generaldirektor der HYPO NOE Landesbank für Niederösterreich und Wien AG, Dr. Peter Harold, begrüßte seine Gäste zum traditionellen HYPO NOE Clubabend, in der inzwischen elften Auflage, wie Harold betonte: „Wir haben an dieser Stelle schon einige relevante Themen diskutiert. Das Thema Brexit hat Einfluss auf die Finanzmärkte und Implikationen für die Mitgliedstaaten. Veränderungen bei Exportvereinbarungen haben z. B. Auswirkungen auf unsere unternehmerisch tätigen Kunden, wir setzen uns daher mit diesem Thema auseinander. Heute wollen wir gemeinsam ein Kapitel beleuchten, das eine hohe Präjudizwirkung für ganz Europa hat.“
Am Podium nahmen der nö. Landesrat für Finanzen, DI Ludwig Schleritzko, die Korrespondentin der Nachrichtenagentur Reuters News Agency, Kirsti Knolle sowie der Präsident der Österreichisch-Britischen Gesellschaft, Dr. Kurt Tiroch, und Botschafter Mag. Alexander Schallenberg, Sektionsleiter im Außenministerium, Platz.
Rosinenpickerei muss vehement abgelehnt werden
Startpunkt der Diskussion war der aktuelle Stand der Austrittsverhandlungen: „Das, was jetzt verhandelt wird, ist ein Präzedenzfall – und schafft ein Vorbild für die anderen Mitgliedstaaten, da muss man sehr vorsichtig sein. Die Rosinenpickerei muss jedenfalls mit aller Vehemenz abgelehnt werden“, betonte Landesrat Schleritzko. „Die EU ist hier letztlich Opfer der britischen Innenpolitik, die britische Regierung wird ihren Bürgern schwierige Kompromisse verkaufen müssen. Beim Thema Bürgerrechte ist man schon sehr weit, bei den Finanzfragen fehlt noch der gemeinsame Wille“, fasste Alexander Schallenberg den Stand der Verhandlungen zusammen.
„Für Unternehmer ist die Rechtssicherheit das wichtigste Thema“, berichtete Peter Harold von Gesprächen mit Wirtschaftstreibenden. „Noch wissen wir nicht, wie der Brexit tatsächlich aussieht. Konkretes ist offiziell noch nicht bekannt. Unternehmern geht es um Fragen zu Zollbestimmungen, Ein- und Ausfuhrbestimmungen. Man sollte möglichst bald die Leitlinien definieren, um Planungssicherheit zu schaffen.“ „Die Schwierigkeit der Verhandlungen liegt tatsächlich im Detail“, berichtete Alexander Schallenberg. Da gehe es z. B. um Zulieferer, die den Flughafen Heathrow als Drehscheibe nutzen und ein Jahr im Voraus planen. Tiroch brach für die Briten eine Lanze, indem er einen Einblick in ihre Grundeinstellung zu den Austrittsverhandlungen gab: „Die Diskrepanz liegt in der Einstellung der Briten, die zu ihren Verpflichtungen stehen und es erledigen wollen, und dem Rest der EU, wo noch viele Fragen ungeklärt sind."
Hier geht es nicht um Peanuts
Für seinen Einwand, dass eine der entscheidenden Fragen der im nächsten Jahr anstehende Finanzrahmen sei, erntete Harold Zustimmung von allen Seiten. „Hier geht es immerhin nicht um Peanuts, sondern mehrere hundert Millionen Euro“, so der HYPO NOE Generaldirektor.
Auf die Frage nach möglichen Ursachen des Brexit-Votums meinte Korrespondentin Kirsti Knolle, dass die Politik sich den Veränderungen im Leben der Menschen nicht schnell genug angepasst habe: „Das Leben der Leute hat sich mehr verändert als die Politik. Das betrifft ihre Jobs, ihr Leben.“ Kurt Tiroch schloss sich diesem Urteil an, indem er ergänzte: „Es gibt große Unsicherheiten europaweit, viele Gewinner, aber auch Verlierer im System. Da hat die Politik in Großbritannien auch nicht die richtigen Lösungen angeboten.“
Direkte Kommunikation ist das beste Gegenmittel
Auf die Frage, ob die jetzige Krise Europas am fehlenden Vertrauen zwischen Bürgern, Institutionen und Politik liege, betonte Landesrat Ludwig Schleritzko, dass direkte Kommunikation immer das beste Gegenmittel sei: „Wir sind viel unterwegs, um Stimmungen einzufangen, um die Leute dort aufzusuchen, wo sie zu Hause sind. Nur im direkten Austausch kann man Ängsten und Befürchtungen etwas entgegenhalten.“ Ähnlich sah es HYPO NOE-Generaldirektor Harold: „Persönlicher, regionaler Kontakt ist gerade auch für Banken wichtig. Ein Beispiel: die Kreditfinanzierung. Da ist ein standardisierter Online-Prozess ohne persönlichen Ansprechpartner nicht hilfreich. Dass man jemanden kennt, dass der Kunde sich wohlfühlt, weil er Vertrauen in die Kompetenz der Beratung hat – darum geht es. Man muss Sicherheit zeigen und sich dieses Vertrauen hart erarbeiten, es in der Folge auch pflegen.“
EU soll sich um Kernfragen, nicht um Farbe der Pommes kümmern
Relative Einigkeit unter den Diskutanten herrschte bei der Frage, was man aus dem Votum lernen kann. Tiroch: „Das Brexit-Ergebnis hat nicht nur im UK, sondern auch in der EU eine Krise ausgelöst. Der Brexit könnte sogar hilfreich sein, eine positive Entwicklung einzuleiten. Vielleicht muss man wieder zum Kern zurück, Themen finden, die nur in der Gemeinsamkeit gelöst werden können, andere Themen aber wieder an die einzelnen Länder zurückgeben, wo sie besser angegangen werden können." Auch Kirsti Knolle teilte diesen Eindruck: „Das Problem ist erkannt. Die Staaten müssen sich einig werden, sich vor allem auch trauen und Mut zeigen.“ Als „Weckruf“ bezeichnete Botschafter Schallenberg das Brexit-Votum: „Es bedarf einer Kurskorrektur. Man darf nicht das Gefühl haben, die EU ist eine Konsumentenschutzorganisation, die sich nur um die Farbe der Pommes frites kümmert, aber die gemeinsamen Außengrenzen nicht sichern kann. Wenn man das Gefühl vermittelt, wir kümmern uns um die brennenden Kernfragen, dann ist das der beste Weg, um Vertrauen zurückzugewinnen.“
EU hat sich als Projektabwickler bewährt
„Die EU war immer dann erfolgreich, wenn sie große Projekte zu stemmen hatte – sie ist ein großer Projektabwickler, da hat sich diese Gemeinschaft bewährt. Die gemeinsame EU-Grenzsicherung wäre ein konkretes Projekt, das uns einen könnte“, führte Schleritzko einen wichtigen Punkt an. Man müsse aber die klaren Vorteile dieser Gemeinschaft sehen. Der Landesrat betonte, dass es für ihn „unvorstellbar ist, nicht Teil der EU zu sein. Niederösterreich hat enorm profitiert, ist vom Rande Europas in die Mitte gerückt. Die EU ist eine riesengroße Erfolgsgeschichte, aber wir stehen zum Europa der Regionen, das ist entscheidend“, und machte schmunzelnd ein Angebot an die britische Bevölkerung: "Wenn jemand abwandern will, Niederösterreich bietet die besten Voraussetzungen.“
Regionalität ist auch für die EU eine Lösung
Einigkeit gab es in der Schlussrunde zur Frage der künftigen EU-Ausrichtung: Regionen seien „deutlich näher als Nationalstaaten“, so Tiroch. Es gehe um „Konzentration auf die wesentlichen Themen, die man nur gemeinsam lösen kann“. „Die EU hat immer eine Lösung gefunden, auch zum Brexit wird es eine Lösung geben. Man muss regional verankert sein, die Leute kennen, dann ist man nicht nur als Bank und Unternehmen gut aufgestellt, sondern auch als Europäische Union“, so Harold.
Auch Alexander Schallenberg konnte sich dem anschließen: „Themen wie Daseinsvorsorge und Sozialpolitisches sollte man dort belassen, wo sie besser aufgehoben sind." Landesrat Schleritzko brachte es abschließend auf den Punkt: „Richtige Entscheidungen muss man auf der richtigen Ebene treffen: Große Themen soll man in Europa anpacken. Aber kleine Themen, die besser regional gelöst werden können, sollte die EU den einzelnen Ländern überlassen.“
Der von Christiane Teschl moderierten Podiumsdiskussion folgte eine Diskussion mit den zahlreichen Gästen aus Wirtschaft, Politik und dem öffentlichen Leben. Die Veranstaltung war der elfte HYPO Invest Club, nach der Premiere im Mai 2009 mit Prof. Lothar Späth als Keynote-Speaker, dem Besuch von Hans-Dietrich Genscher anlässlich des 20. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer, dem Vortrag des EU-Vizepräsidenten a. D. Günter Verheugen über die Zukunft Europas und des Euro sowie der spannenden Diskussion mit Finanzminister Hans Jörg Schelling im Vorjahr über Chancen und Risiken des Wirtschaftsstandortes Österreich.